WENN DAS LEBEN NERVT

Dem Menschen gehen im Lauf eines Tages (oder eines Lebens) alle möglichen Gedanken durch den Kopf, und mit manchem ringt er wieder und wieder. Eine Sache, die wir immer wieder und wieder nicht verstehen wollen (und können), ist die: Warum ist das Leben so schwierig? Warum geht’s den anderen (die doch auch nicht besser sind) besser? (Varianten: Warum haben es gerade die Guten oft schwer bzw. warum geht’s gerade den Miesen oft so gut?) Das Wissen, dass es dem größten Teil der Weltbevölkerung noch viel, viel schlechter geht, verhilft vielleicht zur Dankbarkeit- wirklich besser macht das die Sache aber gerade in dem Moment nicht.

In so einem Moment lief mir Corrie ten Boom über den Weg. Nicht sie persönlich, das geht nicht, immerhin ist die Dame bereits seit 35 Jahren tot. Das war vielmehr ein Buch, dessen Titel heute ein wenig unglücklich wie ein Ratgeber für Magersüchtige daherkommt: „Mit Gott durch dick und dünn“. Auf der Titelseite ein altes Ömchen, wie es sie heute nicht mehr gibt, inklusive Haarnetz, Kostüm und riesiger brauner Handtasche.  Wer daraus auf den Inhalt schließt, wird staunen- sehr staunen: Das „Ömchen“ hat Leben intensiv zu bieten, wie es kaum vorstellbar ist, und zwar immer: mit Gott. Weil es ohne Gott nicht geht, bzw.: weil wir´s ohne Gott nicht schaffen können. Oft wollen wir ja, wer kennt das nicht: Wir wollen wirklich, wirklich, wirklich ein besserer Mensch werden/ mehr Bewegung machen/ netter sein zu Leuten, die man nicht so mag/ Gott nicht mehr vorwerfen, warum er es gerade UNS so schwer gemacht hat- aber es geht nicht. Wir kriegen es so was von nicht hin, es ist zum heulen.

Und hier erzählt C. t. Boom aus dem Nähkästchen: „Gott hat Pläne für unser Leben, keine Probleme. Bevor meine Schwester Betsie in Ravensbrück starb, sagte sie zu mir: „Dein ganzes Leben ist eine Vorbereitung für das Werk gewesen, das du hier in der Gefangenschaft tust, und auch für die Arbeit, die du später tun wirst.“

Sie hatte recht: das Leben des Christen ist immer Zurüstung zu einem höheren Dienst. Ein Sportler wird sich nicht darüber beklagen, daß sein Training hart ist. Er denkt an den Wettkampf und hofft auf Sieg. Paulus sagt das im 8. Kapitel des Römerbriefes:

Denn ich bin überzeugt, daß die Leiden dieser Zeit der Herrlichkeit nicht wert sind, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Zum die Kreatur ohne ihren Willen der Vergänglichkeit unterworfen ist. Nein, sie ist dem unterworfen, der sie unterworfen hat – auf Hoffnung. Denn auch die Kreatur wird frei werden für den Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß sich alle Kreatur mit uns sehnt und sich noch immer ängstigt. Nicht mehr allein sie, sondern auch wir selbst, die wir des Geistes Erstlinge haben. Wir sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unseres Leibes Erlösung.

(…) Da betete ich doch während meiner Haft in Holland oft: „Herr, laß doch nicht zu, daß mich die Feinde in ein deutsches Konzentrationslager bringen.“

Auf dieses Gebet antwortete Gott mit einem glatten Nein.“

Nach dem Krieg kehrt ten Boom nach Deutschland zurück und eröffnet in einem ehemaligen Lager ein Lager für Flüchtlinge:

In einem der kleineren Räume fand ich einen Rechtsanwalt. Er saß oder hing vielmehr in einem Rollstuhl. Seine Beinstümpfe zeichneten sich unter einer dünnen Decke ab. Er war voller Bitterkeit, Haß und Selbstmitleid. Er erzählte mir, daß er früher aktives Mitglied seiner lutherischen Kirche gewesen sei und als Junge die Glocken seiner Dorfkirche geläutet habe. Nun hatte ihm die schreckliche Ungerechtigkeit des Krieges beide Beine genommen. Er war bitter gegen Gott und gegen die Menschen. (…) Wie sonst auch hielt ich mich nicht bei der Einleitung auf, sondern kam sofort zur Sache.

Es gibt nur einen Weg, mit der Bitterkeit fertig zu werden. Man muß sie überwinden“, sagte ich.

Er dreht sich langsam zu mir herum und sah mich an.

Was wissen Sie schon von Bitterkeit!“ sagte er. Sie haben noch Ihre Beine.“

Ich will Ihnen etwas erzählen“, sagte ich. „In Holland kam während des Krieges ein Mann zu mir und bat mich, ihm zu helfen, seine Frau zu befreien. Er tat mir leid, und ich gab ihm mein ganzes Geld. Ich überzeugte meine Freunde, daß sie das auch machen müßten, und sie taten es. Aber der Mann war ein Quisling, ein Verräter. Nun saß ich in der Falle, aber nicht nur ich, sondern meine ganze Familie und meine Freunde. Wir kamen alle ins Gefängnis, wo drei von meiner Familie starben. Sie meinen, ich wüßte nichts von Bitterkeit und Haß. Sie hassen die Situation, in der Sie sich jetzt befinden. Aber ich haßte einen Menschen. Ich saß in meinem Heimatland im Gefängnis, wartete auf den Transport in ein deutsches Konzentrationslager, haßte und füllte mein Herz mit Bitterkeit. Ich wünschte dem Mann den Tod. Ich weiß, was hassen ist. Deshalb kann ich Sie verstehen.“

Der Rechtsanwalt hatte mir inzwischen sein Gesicht voll zugewandt. Er hörte zu.

So, Sie haben also auch gehaßt. Was soll ich Ihrer Meinung nach nun mit meinem Haß machen?“

Meine Meinung hat da nicht viel zu bedeuten. Ich will Ihnen sagen, was der Sohn Gottes darüber denkt. `Wenn ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater vergeben.´ Sobald wir anderen vergeben, wird unser Herz bereit, Vergebung zu empfangen.“

Der Mann mühte sich mit seinem Rollstuhl ab. Die Adern an seinem Hals schwollen an, als er den Stuhl mit den Händen zu wenden versuchte.

Wenn wir bekennen“, fuhr ich fort, „vergibt uns Gott und reinigt er uns. Das habe ich getan: Ich habe bekannt. Ich glaubte es, daß, wenn ich meine Sünde bekenne, Gott treu und gerecht ist und mich von meinen Sünden reinigt und mir alle Ungerechtigkeit vergibt.“

Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf.

Das ist leicht zu sagen. Aber mein Haß ist zu tief, als daß er weggewaschen werden könnte.“

Nicht tiefer als meiner“, sagte ich. „Aber als ich ihn bekannte, hat Jesus ihn mir nicht nur abgenommen; er erfüllte mich mit Liebe, sogar mit der Fähigkeit, meine Feinde zu lieben.“

Wollen Sie etwa damit sagen, daß Sie den Mann, der Sie verraten hat und der für den Tod Ihrer Familie verantwortlich war, plötzlich lieben konnten?“

Ich nickte. „Nach dem Krieg war dieser Mann zum Tode verurteilt worden. Ich korrespondierte mit ihm, und Gott half mir, ihm den Weg des Heils zu zeigen, bevor er hingerichtet wurde.“

Wieder schüttelte der Rechtsanwalt den Kopf. „Was für ein Wunder! Sie glauben, Jesus kann das an einem Menschen tun? Darüber werde ich lange nachdenken müssen.““

Später wird ten Boom den Mann wieder treffen:

Er holte mich am Bahnhof ab, um mich ins Lager zu bringen. Als ich ins Auto stieg, lachte er über meinen ängstlichen Blick.

Sie haben mir beigebracht, daß Jesus Sieger ist“, sagte er, „nun dürfen Sie aber auch keine Angst haben, mit einem Mann ohne Beine zu fahren.“

Sie haben recht“, antwortete ich. „Ich brauche nicht ängstlich zu sein. Ich bin so froh, daß ich Sie wiedersehe. Wie geht es Ihnen?“

Gut. Ich muß es Ihnen jetzt schon gleich am Anfang sagen, daß ich Gott meine Bitterkeit ausgeliefert habe. Ich habe sie ihm bekannt, und der Herr tat genau das, was Sie sagten. Er vergab mir und füllte mein Herz mit Liebe. Nun arbeite ich im Flüchtlingslager mit und bin Gott dankbar, daß er sogar einen beinlosen Mann gebrauchen kann, wen er sich ihm ausgeliefert hat.“

Nach einer Pause fuhr er fort: „Aber eins müssen Sie mir noch sagen. Nachdem Sie Ihren Feinden vergeben hatten, war dann alles aus und vorbei?“

Oh – keineswegs,“ antwortete ich. „Gerade jetzt hatte ich eine schlimme Erfahrung mit Freunden, die sich wie Feinde verhalten haben. Sie gaben ein Versprechen, das sie nicht hielten. Sie brachten mich damit in große Schwierigkeiten. Aber ich habe meine Bitterkeit dem Herrn ausgeliefert, um Vergebung gebeten, und er nahm die Bitterkeit weg.“

Wir fuhren durch Schlaglöcher, aber der Rechtsanwalt schien nichts davon zu merken.

War dann die Bitterkeit sofort weg?“

Nein, in der nächsten Nacht erwachte ich um vier Uhr, und da war mein Herz wieder voller Bitterkeit. Ich dachte: Wie können gute Freunde nur so etwas tun! Wieder brachte ich das alles dem Herrn. Er erfüllte mein Herz wieder mit Liebe. Aber in der nächsten Nacht war alles wieder da. Ich war so enttäuscht. Gott hatte mich oft gebraucht, andern zu helfen, daß sie ihre Feinde lieben konnten, und ich hatte immer wieder bezeugen können, was er in meinem Leben getan hat. Aber nun war ich verzweifelt. Dann erinnerte ich mich an die Verse im 6. Kapitel des Epheserbriefes. Dort beschreibt Paulus die Waffenrüstung Gottes. Halte stand, sagt er da, bis zuletzt. Auch wenn euer inneres Leben zu einem Stillstand kommt. Bei mir war Stillstand, aber ich wollte mich nicht weiter abdrängen lassen. Ich wollte mit Gottes Hilfe den Angriff des Feindes bestehen. Da fielen die Bitterkeit und alle unfreundlichen Gefühle von mir ab. Corrie ten Boom kann ohne den Herrn Jesus nicht siegreich sein. In jedem Augenblick brauche ich den Herrn. Das hat mir gezeigt, daß ich absolut von ihm abhängig bin. Und das hat mich reicht gemacht.“

Ich bin froh, daß Sie das sagen“, meinte er. „Denn manchmal kommt meine alte Bitterkeit zurück. Nun will ich standhalten, festhalten am Sieg Jesu über Furcht und ungute Gefühle und auch dann lieben, wenn mir nicht danach ist.“

Aus dem Buch: Corrie ten Boom, Jamie Buckingham: Mit Gott durch dick und dünn, Brockhaus Verlag Wuppertal 1975

 

 

 

 

 

 

 


 

Mehr von und über Corrie ten Boom:

Über ihre Geschichte:

… aus dem Buch „Viele Fragen? Nur eine Antwort“ von C. t. Boom, hier Online zu lesen:

http://bitflow.dyndns.org/german/CorrieTenBoom/Viele_Fragen_Nur_Eine_Antwort_1962.pdf

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Ihre Bücher finden Sie u.a. hier: www.scm-shop.de/person/boom-corrie-ten.html

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Das Ten Boom Museum in Haarlem kann auf der Website auch online besucht werden

Corrie ten Boom House

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Ausschnitt aus dem Film „Das geheimnisvolle Uhrengeschäft“

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Zwei Jahre nach ihrer Rettung aus Ravensbrück steht sie unvermutet einem Feind gegenüber:

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Film: Die Zuflucht