In seinem Artikel „Ist die Religion schuld?“ schreibt Tahir Chaudhry, dass die „Religion (…) in unserer Gesellschaft mehr und mehr zum Fremdkörper degradiert“ wird. Atheisten missionieren und hoffen, dass die Religion bald abgeschafft ist: „Was sie hingegen nicht bedenken, ist die Tatsache, dass in dem Moment, da die Religion abgeschafft wäre, kein leerer Raum entstehen würde.“

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Einerseits hält sich der Vorwurf: „Religionen sind die Wurzel allen Übels!” Andererseits müssen wir nicht weit in die Vergangenheit schauen. Leninisten wie die Tamilen-Tiger sprengen sich gleichermaßen in die Luft wie radikal-islamistische Selbstmordattentäter der Al-Qaida. In ihren Zielen, einen eigenen Staat zu errichten, gleichen sie auch der ethnisch-nationalistischen IRA in Irland.

Mao Tse Tung, Josef Stalin, Adolf Hitler oder Pol Pot waren große Tyrannen und Massenmörder unserer Menschheitsgeschichte. Wenigstens eines hatten sie alle gemeinsam: Sie töteten nicht im Namen der Religion. Allein im Ersten und Zweiten Weltkrieg starben insgesamt mehr als 70.000.000 Menschen. Wurde das viele Blut etwa im Namen der Religion vergossen?

Das Dritte Reich führte Krieg, um durch die Besetzung verschiedener Territorien den Lebensraum zu erweitern und durch die Aneignung von Besitztümern den aus den Fugen geratenen Finanzhaushalt zu stabilisieren. Weitere Kriege im 20. Jahrhundert, wie zum Beispiel in Korea, Kambodscha, Vietnam oder im Irak, belegen ebenfalls, dass aus machtpolitischen, ideologischen, strategischen und wirtschaftlichen Gründen getötet wurde.

Im Jahre 2004 veröffentlichten Charles Phillips und Alan Axelrod eine Zusammenstellung aller Kriege im Laufe der Menschheitsgeschichte in der „Encyclopedia of War”. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass von etwa 1763 dokumentierten Kriegen lediglich 123 als religiöse Konflikte eingestuft werden konnten.

 

Der organisierte Wahnsinn

Religion wird in unserer Gesellschaft mehr und mehr zum Fremdkörper degradiert. Wie beurteilen wir das Fremde, das Andere? Wir beurteilen es nach den Vorgaben unserer „mentalen Festplatte”, auf der persönliche Erfahrungen und Wahrnehmungen gespeichert werden. So entsteht ein Bild. Das Bild zeigt die drei in erbitterter Feindschaft zueinanderstehenden monotheistischen Religionen. Sie seien anfällig für Gewalt, heißt es, da nur ein Gott im Zentrum stünde. Hingegen seien polytheistische Religionen friedfertiger, weil sie sich an eine Vielzahl von Göttern richten würden.

Die Geschichte zeichnet jedoch ein anderes Bild und macht deutlich, dass jede Religion geschichtlichen Entwicklungen und situationsbedingten Anpassungen unterworfen war. So sind die brutalen Heere der polytheistischen Griechen, buddhistische Mönchsarmeen oder die hinduistische Kriegerkaste genauso ein Teil der Geschichte, wie die christlichen, muslimischen oder jüdischen Kriege. Aber sind Handlungen der Religiösen gleich religiöse Handlungen?

Keine Religion stellt einen einheitlichen Block dar. Dementsprechend kann nicht behauptet werden, dass die religiöse Welt voller Konflikte sei, dagegen die areligiöse Welt vollkommen friedfertig. Gerne picken wir uns konkrete Instanzen aus abstrakten Entitäten heraus, um sie für das Ganze zu nehmen und Binsenwahrheiten daraus formulieren zu können.

Schon Immanuel Kant postulierte, dass die menschliche Natur eine destruktive Kraft in sich trage. Gemäß René Girard macht diese das Individuum gewaltanfällig, da der Mensch begehrt. Und wenn mehrere Menschen das gleiche begehren, steigt das Interesse an dem Objekt. Nicht weil der Mensch das Objekt braucht, sondern weil der Andere das Objekt besitzt. Es entsteht ein Mechanismus von Neid, Gier, Hass, Rivalität und Eifersucht. Durch Nachahmung des Anderen bilden sich Gruppen. Die Gewalt aller gegen alle schaukelt sich hoch, wobei am Ende das Objekt der Begierde keine Rolle mehr spielt.

 

Der geheiligte Krieg

Das Töten von Individuen oder die Auslöschung von Massen zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Es geschah im Namen der Ehre, aus Rachsucht, auf der Suche nach Nahrung und Besitztümern oder im Streben nach Weltherrschaft. Dabei kam auch die Religion zum Einsatz. Als Papst Urban II. in seiner Predigt zum Kreuzzug für die Befreiung Jerusalems von den Heiden rief, antwortete die Menschenmenge: „Deus lo vult!” („Gott will es!”). Doch was wollte Gott? Was wollte der Papst? Und was wollte der Herrscher? Erstaunlicherweise stoßen wir jedes Mal auf ähnliche Motivationsmuster: „Die Anderen sind im Vormarsch! Ihr Einfluss weitet sich aus! Ihre militärische Kraft vergrößert sich! Ihre Ressourcen häufen sich an! … und wusstet ihr, dass die Anderen herzlose Barbaren sind, ungesittete Heiden?”

Der Redner, der solche Worte von sich gab, ist meist ein Charismatiker, der keine Zweifel daran aufkommen lässt, dass der Aufruf zum Einsatz von Schwert und Feuer im Namen der Religion berechtigt ist. Für die heutigen Menschen in West oder Ost ist dies kaum vorstellbar. Sie identifizieren sich mehr über die Staats-, Volks- oder Kulturzugehörigkeit als über die Religion.

Religion bewirkt im Gegensatz zu anderen Identifikationsmerkmalen eine Metamorphose der Herzen. Religion ist keine Politik und ihre Anhänger formieren sich nicht als politische Partei. Religion ist keine Nation mit ihren begrenzten Loyalitäten oder ein Staat mit geografischen Grenzen. Da Religion eine Herzensangelegenheit ist, konnten nicht selten betrügerische und machtsüchtige Menschen eine unvernünftige Masse dazu bewegen, Taten zu begehen, die bis dahin sogar ihren eigenen Moralvorstellungen widersprachen.

 

Religion ist eine Ausdrucksform

Vergegenwärtigt man sich den Israel-Palästina-Konflikt, sieht man scheinbar Muslime gegen Juden kämpfen. In Syrien Schiiten gegen Sunniten, in Irland: Protestanten gegen Katholiken oder in Nigeria Christen gegen Muslime. Tatsächlich ist Religion schon seit langer Zeit keine Kriegsursache mehr, sondern eine Ausdrucksform, die einem Krieg im Laufe des Konflikts verliehen wird.

Ohne einen Blick auf die Kausalität kann ein Konflikt nicht korrekt eingeordnet werden. Bei Konflikten unserer Zeit, die als religiösmotiviert charakterisiert werden, bildet sich erst im Verlauf der Entwicklungen ein entsprechendes Bewusstsein oder eine Verhärtung einer bestimmten Identität heraus. Dadurch wird der Konflikt in seiner Komplexität reduziert und übersichtlicher gemacht. Zudem wird durch die Festigung der Gruppenzugehörigkeit und der strikten Rollenverteilung in Gut und Böse der Kampf zu einem grundsätzlichen Konflikt, der unverhandelbar ist.

Nehmen wir einmal das ehemalige Jugoslawien als Beispiel. Dort gab es Serben, Kroaten, Slowenen und Bosnier. Jede Volksgruppe hätte sich auf ihre eigenen Besonderheiten berufen können. Doch die Serben setzten auf eine panslawische Identität, womit sie die Karte der sprachlichen Verwandtheit ausspielten. Den Bosniern blieb keine andere Wahl, als auf ihre religiöse Zugehörigkeit zu setzen, womit sie automatisch Muslime weltweit ansprachen. Tatsache ist, dass bosnische Muslime wenige bis überhaupt nicht praktizierende Gläubige sind. Trotzdem gesellten sich in ihrem Kampf gegen die panslawische Gruppe Kämpfer aus aller Welt hinzu, die sich als Muslime bezeichneten. Jeder von ihnen kam als muslimischer „Bruder” mit einer persönlichen Agenda. Ganz oben stand bei ihnen der Kampf gegen den „Westen”. Zugleich war es ihnen ganz egal, ob sie im Nahen Osten, Afghanistan oder in Bosnien kämpften. Dem Kampf, den als „Gotteskrieger” führten, wurde allein um des Krieges Willen ausgetragen. Hierbei gehörte die kontinuierliche Ignoranz gegenüber islamischer Ethik und Moral zur allgemeinen Praxis der Freiheitskämpfer.

 

Die Eifersucht der Anti-Religiösen

„Ohne Religion wäre die Welt besser dran!” Viele in unserer Gesellschaft würden diese These sofort unterschreiben. Bei uns liegt Kritik an Religionen im Trend. Wer nicht zur Kirche, in die Synagoge oder Moschee geht, aber religiös bleiben möchte, der glaubt an Gott und misstraut seinem „Bodenpersonal”. Er nennt sich fortan „Agnostiker” und hängt philosophischen Theorien an, die seinen Geist zu gedanklichen Spaziergängen anregen, ohne ihn zu irgendwelchen Handlungen zu verpflichten. Oberflächlichkeit wirkt anziehend. Auf diesem Gebiet herrscht eine gewaltige Konkurrenz. Buddhistische Sekten, New Age, Feng-Shui oder Esoterik gelten als zeitgemäße Alternativen.

Ebenso der Atheismus, der Religion als infantile Neurose ablehnt. „Es gibt keinen Gott! Werte sind menschlich. Auf uns kommt es an!” Atheisten missionieren und geben vor, eine Alternative zum religiösen Lebensstil zu sein. Gibt es da etwa einen anti-religiösen Neid? Auch Atheisten sehnen sich nach Transzendenz. Sie zeigen sich bewusst kompromisslos nach außen, indem sie die Abschaffung von Religion fordern. Was sie hingegen nicht bedenken, ist die Tatsache, dass in dem Moment, da die Religion abgeschafft wäre, kein leerer Raum entstehen würde. Stattdessen würden die Menschen versuchen, den leeren Raum mit anderen Dingen zu füllen. Wir erschaffen uns Ersatzreligionen, die aus Konsum, Arbeit, Politik oder unseren Hobbys geformt werden und uns kurzfristig Freude bescheren.

Für die Ausbreitung der Religionsverdrossenheit gibt es vielerlei Ursachen. Eine von ihnen war die Verdammung der Naturwissenschaften durch die Kirche selbst. In der Folge des Bildungsfortschrittes in Europa sahen die Geistlichen ihre Macht und ihren Einfluss in Gefahr. Sie brandmarkten die neuen Erkenntnisse der Wissenschaften als „gottlos“, „Sünde“ und „Ketzerei“. Mit zunehmenden Erkenntnissen sahen sich die neuen Welterklärer in ihrer Überzeugung „Es gibt keinen Gott!“ bestätigt. Sie flüchteten aus einem dogmatischen Glauben in ein anderes Extrem, den aggressiv-dogmatischen Atheismus. Diese Welterklärer stellen für viele Menschen eine Autorität dar, denn sie liefern Antworten auf Fragen, in denen das „Wort Gottes“ schweigt.
Die Folge: Ein Großteil unserer säkularen Gesellschaft meint, auf Weltanschauungen verzichten zu können. Sie ist zu liberal, um Wertehierarchien zu formulieren, und zu konsumorientiert, um Bescheidenheit zu predigen. Umso mehr tut sich unsere Gesellschaft mit denen schwer, die an einen Gott glauben und nach den Geboten einer Religion leben wollen. Dies trat schon in der Beschneidungsdebatte, dem Pussy-Riot-Skandal oder der Schmähfilm-Diskussion zutage. Im Hintergrund stand immer die Frage: Wie viel Freiraum lassen wir den Religiösen in unserer Gesellschaft?

 

Religion unter Säkularen

Viele sind zudem überzeugt, dass die Trennung von Staat und Religion den Staat zu einem religionsfreien Raum machen würde. Aber: Weder sollten die Menschen in einem säkularen Staat ihrem Glauben abschwören, noch sollte der Staat religiöse Botschaften und Überzeugungen ignorieren. Der Staat gewährt uns das Recht auf Religionsfreiheit, wonach jeder Mensch glauben darf, was seiner Überzeugung entspricht, der Gläubige ebenso wie der Atheist.
Nehmen wir an: Ich laufe durstig in der Wüste umher. Aus der Ferne sehe ich eine Oase, die eine Wahnvorstellung sein könnte. Auch wenn ich dort keine Oase finde, suche ich weiter, da mein Durst beweist, dass es Wasser geben muss!

Das ist unsere Vernunft. Sie fordert uns auf, über das nachzudenken, was uns umgibt. Wir wurden mit einem Verstand ausgestattet, der uns in die Lage versetzt, die überlieferten Weisheiten unserer Vorfahren zu studieren. Ein blinder Glaube ist genauso verwerflich, wie ein blinder Atheismus. Die öffentliche Kritik an religiöser Praxis ist genauso wichtig wie öffentliche Kritik an atheistischen Dogmen. Selbstkritik und Streben nach Gewissheit ist das, was beide Seiten nicht aus dem Auge verlieren sollten.